Visuelle Semantik

"Was haben Literatur, Malerei und Film gemeinsam? Sie sind durch Visualität gekennzeichnet, indem sie über die ästhetische Gestaltung visueller Wahrnehmung Sinn und Bedeutung vermitteln. Dabei gestaltet sich die ästhetische Konkretisierung in den einzelnen Künsten je medienspezifisch aus, während die visuelle Semantik medienübergreifend und damit transmedial ist. Zugleich stellt die Visualität durch ihre mediengebundene Ästhetik und ihre medienübergreifende Semantik einen intermedialen Anknüpfungspunkt dar und dient somit als Brücke zwischen den einzelnen Künsten. Dies läßt sich besonders deutlich an literarischen und filmischen Beispielen zeigen, da die beiden Künste, was ihre Medialität anbelangt, denkbar verschieden sind und sich dennoch beide der Visualität als ästhetischem und semantischem Ausdrucksmittel bedienen. Ein roter Regenmantel, der sich im Teich spiegelt; ein roter Ball, der auf dem Rasen liegt; eine rote Zipfelmütze, die von den Kanälen Venedigs reflektiert wird -- und schließlich rotes Blut, das sich auf dunklen Steinfliesen zu einer immer größeren Lache sammelt. Die Signalfarbe Rot dient in Nicolas Roegs Film Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) als visuelles Leitmotiv, das mehrere Funktionen erfüllt: Innerhalb der Erzählung dient es als Warnsignal, das den mehr und mehr irritierten Restaurator John Baxter auf seinen Irrwegen durch Venedig vor drohender Gefahr warnen soll. Bereits zu Beginn des Films werden so Hinweise auf seinen Ausgang gegeben. Filmästhetisch kommt der leitmotivisch eingesetzten Farbe zusätzliche Bedeutung zu: Sie dient als Mittel der visuellen Bildkomposition. Für den Rezipienten bietet sie außerdem einen Zugang zur zugrundeliegenden Sinnstruktur des Films. Roeg setzt in seinem Film ein einfaches visuelles Signal und erreicht damit auf verschiedenen Ebenen eine sowohl ästhetische als auch semantische Wirkung. Dabei erscheint die bildästhetische Wirkung zunächst am nächstliegenden, die semantische jedoch am interessantesten. Transmediale LeitmotivikWas teilt uns eine Farbe im Kunstwerk mit? Darauf läßt sich mit Blick auf das betreffende Filmbeispiel antworten: Bedeutung, Zusammenhang, Sinn. Allein durch das Setzen farblicher Akzente kann eine Sinnstruktur, eine Art 'Subtext' auf rein visueller Ebene entwickelt werden. Diese Möglichkeit der Bedeutungsvermittlung ist nicht auf das primär visuelle Medium Film beschränkt: Auch in der Literatur, die kein ikonisches Medium ist, finden sich visuelle Beschreibungen und Leitmotive, die eine semantische Funktion erfüllen und damit durch Visualität Sinn vermitteln. Gerade die leitmotivisch eingesetzte Farbe Rot warnt auch in der Literatur einen verwirrten Protagonisten, der durch die Gassen Venedigs irrt: Dem 'überreizten' Gustav Aschenbach begegnet in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912) bereits auf dem Münchner Friedhof ein Mann "fremdländischen, rothaarigen Typs", auf den er aufmerksam wird. Auf seiner Fahrt nach Venedig sieht er sich von einem Alten bedrängt, der sich mit "karmesinroten" Wangen als Jüngling herausgeputzt hat. Der Gondelfahrer, der Aschenbach bei seiner Ankunft über die Kanäle befördert, ist "von ungefälliger, ja brutaler Physiognomie" und unter anderem durch seine "rötlichen Brauen" gekennzeichnet. Der Jüngling Tadzio, der den angegriffenen Aschenbach vollends in den Niedergang treiben wird, trägt eine "rotseidene Masche auf der Brust" und geleitet ihn damit durch ein schwüles und verfallendes Venedig. Dort begegnet er bei einem Glas 'rubinroten' Granatapfelsafts nochmals einem rothaarigen Gaukler, der ihm besonders auffällt. Wenn sich Aschenbach am Ende der Novelle selbst in einen falschen Jüngling verwandeln läßt, "erwacht auf seinen Wangen ein zartes Karmin und seine Lippen schwellen himbeerfarben". Schließlich scheint er selbst ein Zeichen der Verbindung zu setzen, indem er sich eine rote Krawatte umbindet und damit das mit dem Jüngling Tadzio verbundene Accessoire aufgreift. Vor seinem Tod erscheint ihm dieser noch einmal mit der roten Schleife auf der Brust. Die leitmotivisch eingesetzte Farbe Rot begleitet nicht nur den gequälten Aschenbach auf seinen Irrwegen durch Venedig, sondern sie dient auch dazu, eine eigene Sinnstruktur zu entwerfen, die die Begegnungen und Ereignisse von Anfang aufeinander bezieht und durch die Signalfunktion der Farbe eine indirekte Warnung und Vorausweisung darstellt.Roegs Film und Manns Novelle könnten unterschiedlicher nicht sein. Es handelt sich nicht nur um zwei verschiedene Medien; die beiden Werke stehen auch in völlig verschiedenen Kontexten und verwenden unterschiedliche Stile; auch Inhalt und Aussageintention haben nichts miteinander gemein. Und dennoch haben sie neben dem Handlungsort Venedig diese eine auffällige Gemeinsamkeit: das Leitmotiv Rot, das in beiden Geschichten eine Sinnstruktur auf visueller Ebene erzeugt. Aus diesem beispielhaften Vergleich lassen sich folgende Thesen herleiten: Zum einen dienen visuelle Merkmale nicht nur der Gestaltung oder Beschreibung der fiktionalen Welt, sondern sie fungieren zugleich als Bedeutungsträger. Zum anderen ist die Bedeutungsvermittlung durch visuelle Merkmale ein Phänomen, das man in verschiedenen Medien antrifft, unabhängig davon, ob es sich um visuelle Medien handelt. Und schließlich können diese visuellen Phänomene als Verbindung zwischen den Medien verstanden werden.Diese Thesen möchte ich durch einige Begriffsdefinitionen und weitere Beispiele konkretisieren und zu der Aussage zuspitzen, daß die ästhetische Gestaltung visueller Wahrnehmung in ihrer semantischen Funktion ein medienübergreifendes und damit medienverbindendes Phänomen ist. Zugleich differenziert sich diese Gestaltung in den verschiedenen Künsten je medienspezifisch aus. Dies läßt sich anhand literarischer und filmischer Beispiele, die sich in ihren medialen Eigenschaften stark voneinander unterscheiden, besonders gut veranschaulichen. VisualitätDie ästhetische Gestaltung visueller Wahrnehmung mit bedeutungsvermittelnder oder sinnstrukturierender Funktion soll mit dem Begriff Visualität bezeichnet werden. Das an Roeg und Mann bereits veranschaulichte visuelle Leitmotiv ist ein erstes Beispiel für Visualität. Darüber hinaus finden sich jedoch zahlreiche weitere Verfahren. Schon die visuelle Darstellung der fiktionalen Welt ist meist nicht einfach eine anschauliche Umrandung stattfindender Handlung, sondern dient darüber hinaus der Bedeutungsvermittlung. So kann die Raumgestaltung beispielsweise eine bestimmte Atmosphäre oder Stimmung kreieren und damit eine emotionale Wirkung erzielen. Die Gestaltung der fiktionalen Welt geschieht in der Literatur maßgeblich durch das Verfahren der Beschreibung. Im Unterschied zur narrativen Schilderung von Handlung, stellt die Beschreibung einen Zustand dar und vermittelt damit das, was der Mensch gemeinhin durch seine Wahrnehmung erfaßt. W. J. T. Mitchell stellt in seinem Aufsatz "Space Form in Literature" fest, daß alles, was dem Leser im Text an Wahrnehmungen der fiktionalen Welt mitgeteilt wird, im Bereich der Beschreibung liegt. Die visuelle Wahrnehmung ist der wichtigste Zugang des Menschen zur Welt und bildet insofern den Hauptgegenstand literarischer Beschreibung. Das von der Cholera heimgesuchte Venedig in Manns Novelle wird neben wiederholten Geruchsbeschreibungen vor allem mittels visueller Eindrücke geschildert. Die bei der Ankunft beschriebene Fahrt in einer Gondel -- Aschenbach assoziiert sie mit einem Sarg -- verweist bereits auf das bevorstehende Unheil:"Das seltsame Fahrzeug aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge es sind, -- es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre und düsteres Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt."Und auch die späteren Beschreibungen der Gassen und Brücken, die Aschenbach bei seiner 'Verfolgung' Tadzios durch die Stadt entlangläuft und überquert, dienen nicht nur der Handlungskulisse, sondern entwerfen ein vollständiges Szenario des Verfalls und Niedergangs:"Es war still, Gras wuchs zwischen dem Pflaster, Abfälle lagen umher. Unter den verwitterten, unregelmäßig hohen Häusern in der Runde erschien eines palastartig, mit Spitzbogenfenstern, hinter denen die Leere wohnte, und kleinen Löwenbalkonen."Hier wird nicht nur ein Hintergrund entworfen, sondern zugleich Stimmung und Bedeutung erzeugt.In welcher Form vermittelt der Film visuelle Wahrnehmung? Der Film als ikonisches Medium ist durch eine konstant präsente Visualität gekennzeichnet, die sich durch die Filmbilder vermittelt und dadurch immer auch eine bestimmte Atmosphäre und Bedeutung transportiert. Man denke an Filme, die allein über Dekor und Beleuchtung eine anhaltend beklemmende Stimmung erzeugen wie beispielsweise Brad Andersons Psychodrama Der Maschinist (2004). Trotz dieser konstant präsenten visuellen Ebene kann das Verfahren der Beschreibung auf den Film übertragen werden. Auch der Film kann die Handlung in den Hintergrund treten lassen und bestimmte Details wie Kleidung, Objekte, Dekor usw. gezielt fokussieren und damit in den Vordergrund rücken. Seymour Chatman diskutiert in seiner Monographie Coming to Terms die Übertragbarkeit des Begriffs 'Beschreibung' auf den Film:"Weil der erzählende Film uns Figuren und Requisiten ständig mit einer praktisch grenzenlosen sensorischen Genauigkeit vor Augen und Ohren hält, scheint für Filme keine Notwendigkeit zu bestehen, zu beschreiben; es ist ihre Natur, zu zeigen -- und zwar konstant eine Fülle von visuellen Details zu zeigen. Aber deswegen zu sagen, daß dieses Zeigen Beschreibung ausschließt, würde eine fragwürdige Definition des Begriffs zugrundelegen." [Anm. 1]Es ist unbestritten, daß der Film 'zeigt' und der Begriff 'Beschreibung' in seiner Übertragung auf den Film metaphorische Bedeutung hat. Dennoch würde ich sagen, daß auch im filmischen Medium Beschreibungen vorhanden sind. In Stanley Kubricks Film Barry Lyndon (1975) finden sich zahlreiche Filmbilder, die rein deskriptiv sind: Die Kamera fokussiert eine Landschaft, einen Raum, eine Figurengruppe, zoomt teilweise zu einer Nahaufnahme heran oder öffnet sich umgekehrt in eine Totale. Handlung findet dabei nicht statt. Wenn hier dennoch Figuren gezeigt werden, dann erscheinen sie in ihren Bewegungen erstarrt. Als visuelle Repräsentationen dienen diese filmischen Beschreibungen vor allem der Charakterisierung der Hauptfigur, deren Persönlichkeit durch gesellschaftliche Konventionen eingeengt und verdorben wird. Zwar sehnt sich Barry Lyndon nach einem Platz im herrschenden Gesellschaftsgefüge, scheitert zugleich jedoch immer wieder an dessen Regeln und Konventionen. Die Raumbeschreibungen im Film, für die Kubrick sich durch die Malerei des 18. Jahrhunderts beeinflussen ließ, haben demnach ebenso semantische Funktion wie die Beschreibungen im literarischen Text. Gerade an dieser Übertragung der Beschreibung auf den Film wird deutlich, was prinzipiell für das Phänomen der Visualität in den Medien gilt: Das Prinzip und die Funktion der Darstellung sind in beiden Medien vergleichbar, die mediale Umsetzung weicht jedoch stark voneinander ab.

(S. Poppe)
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